Kostproben

Fernwärme

wenn du weit weg bist
von mir
räumlich
zeitlich
oder geistig

dann schalte ich um
auf Fernwärme

dein zerlöcherter Pullover
den du mir einst überlassen hast
stopft das Sehnen im Bauch

deine Stimme
kleidet meine Träume aus

deine Worte
schmiegen sich
um mein Herz

deine Hand
spüre ich
mich über Stolpersteine leiten

und wenn ich möchte
kann ich alles
durch deine Augen sehen

wenn ich dir nah sein will
lasse ich meine Gedanken
zu dir fliegen

frei und leicht
wie die Wolken
die zuweilen
in deine Richtung ziehen

Fernwärme

 

In deinen Armen

in deinen Armen
fühle ich mich umfassend
gehalten
gelassen
gemeint

warm, rund und kraftvoll

etwas Weiches
rollt sich zusammen
in meinem Bauch

ein schöner Schwindel
breitet sich aus
in meinem Kopf
lässt Worte verfliegen
Fragen verdunsten

in deinen Armen
verlassen mich Zweifel
und alle bösen Geister

es juckt an meinen Lenden
dort wachsen mir Flügel

in deinen Armen
treibe ich Wurzeln
tief in die Erde hinein
und in den Himmel
Knospen und Kronen

ich ertrage mich
in deinen Armen
ich trage dich
in meinen Armen
für eine lange Zeit

 

Frag mich doch

frag mich doch
warum ich Blumen auf den Tisch gestellt habe
wie es mir in der Arbeit gegangen ist
warum ich den ganzen Tag schon singe

frag mich doch
wie der Streit mit den Nachbarn ausgegangen ist
von was ich gerade träume
warum ich so still bin

frag mich doch
wenn ich einmal nichts essen kann
von was mein neues Gedicht handelt
wofür ich dankbar bin und worauf stolz

frag mich doch
wie es mir geht

ich hätte vielleicht nicht auf alles Antworten
doch ich könnte viel leichter erzählen
denn ich wüsste
dass du ein Auge hast auf mich
dass du mich meinst
dass du mein Glück willst

ich würde mich aufmachen für dich
und vielleicht auch du dich für mich

Ich habe eine Schwäche

ich hab eine Schwäche
für deine Stärke
für dein Rückgrat
und deine Standfestigkeit

ich habe eine Stärke
für deine Schwäche
für deine lädierten Bandscheiben
und deine müden Füße

ich wachse an dem
was du mir entgegen setzt
ich berge mich in dem
was du mir entgegen bringst

ich werde schwach
bei Süßem und Saurem
ich werde stark
für und durch Dich

Das letzte Wort

nicht
der Tod
wird
das letzte Wort
haben

Gott
wird es haben

möglicherweise
wird es einsilbig sein

vielleicht nur
„Du“
oder
„Ja“

so kurz
und doch wird es
die Kraft haben
uns hineinzuholen
in ein neues Leben

 

Ich begegne Dir

ich begegne Dir
in der Leichtigkeit
wenn mir die Dinge mühelos
von der Hand gehen
sich wie nebenbei die Herzkammern
mit Schätzen anfüllen
die Schatten kürzer sind als das Licht
wenn ich an der Quelle plantsche

ich begegne Dir
im Schmerz
zusammen gekrümmt
handlich verpackt
oder zentnerschwer
die vernarbten, die juckenden
die aufreißenden Wunden
die bedrückenden Lücken
die endlosen Nächte

ich begegne Dir
im Überdruss
wenn ich dem Leben
nur mehr zusehen mag
neben der Spur
außen vor
so vieles probiert, so oft gescheitert
zu lange gewartet, zu viel erhofft

ich begegne Dir
in Bewegung und Stillstand
in Fülle und Leere
in Tatkraft und Erschöpfung
in Überfluss und Überdruss
und alles in allem
in der Liebe

Dir, dem Über-All-Wirksamen
Dir, dem ohn-mächtig Liebenden
Dir, dem Zeiten-Sprengenden

ich begegne Dir
in mir
ich begegne mir
in Dir

 

Wenn mich der Alltag zusammenstaucht

wenn mich der Alltag zusammenstaucht
wie ein von allen Seiten
angefahrenes Auto

wenn ich die Welt nicht
aus den Ohren schälen kann
mit ihrem betäubenden Lärm

nicht aus den Augen reiben
mit ihren zuckenden Bildern

wenn meine Seele nicht mehr nachkommt
überholt von aus dem Takt geratener Zeit
verdichtet zu Beton gemischt mit zu wenig Schlaf

dann steige ich aus

dann springe ich über den Zaun
in grüne Auen voller Quellen

dort wartet auf mich
ein reich gedeckter Tisch

es gibt einen Stammplatz für mich

ich warte
bis ich Dich erkennen kann
in all dem Licht

Du schenkst mir reinen Wein ein
und teilst Brot aus
das göttlich schmeckt
und alles was das Herz begehrt

ich bleibe
bis mich das Leben wieder hat

 

wenn alle Stricke reißen

wenn alle Stricke reißen
bleibt mir immer noch
mein Gott

dem ich es zutraue
auch aus zerrissenen Fasern
ein Netz zu flicken
das mich auffängt

wenn die Hoffnung
zwar zuletzt
aber dennoch stirbt

bleibt mir immer noch
mein Gott

von dem ich glaube
dass er meinen Schmerz
sieht, aushält und mitträgt

wenn es mir den Boden wegzieht
unter den Füßen
bleibt mir immer noch
mein Gott

von dem ich erbitte
dass er mir weiten Raum schenkt
in den er sich selbst hineinstellt
wie ein Leuchtturm
ein Berg
ein Engel
unverrückbar
unübersehbar

es bleibt mir immer noch
mein Gott
der mich im Leben hält

 

Kar-Tag

keine Worte
für meine Trauer

kein Lied
für meine Sehnsucht

keine Hand
für meinen Schmerz

wie soll ich mich aufrichten
da das Licht verschluckt wurde?

ich taste
nach einem ersten Wort

ich lausche
nach einem ersten Ton

ich strecke mich
nach Dir

(Das Gedicht “Kar-Tag” ist erschienen unter “Warkentin, Heide: Zeit der Erwartung
Die schönsten Gebete und Segensworte für Schwangerschaft und Geburt” im Claudius Verlag)

Geschenkter Tag

geschenkter Tag
ich mache blau
mache mich auf
ins aufbrechende Grün

Farben bieten sich mir an
Bilder des Jahres
neu zu mischen

Kunstwerke entschlüpfen
nachgiebigen Knospen
in einem einzigen
Sich-Ins-Leben-Drängen
überall erste Atemzüge
überall raschelt, zwitschert
brummt, sirrt und flirrt es

der Tag kleidet sich festlich

wie in einen Prunksaal
trete ich in ihn hinein
als staunender Gast
voller Komplimente
für das was er für mich
so selbstverständlich
und überbordend
bereit hält

Klatsch-Mohn

mit Herzblut
ist diese Erde geschaffen

ein paar Tropfen davon
auf lebendigem Acker
wehen sommers im Wind

der Mohn klatscht Beifall

langstielige Ovationen
für ein Meisterwerk

Ob der Fluss sich selber hört?

Ob der Fluss sich selber hört?
ob ihn Lärm und Dreck wohl stört?

Ob die Gräser sind gewahr,
dass sie gleichen wildem Haar?

Ob der Biene jeder Nektar
schmeckt auf jedem Wiesenhektar?

Ob das Meer aus Jadegrün
fühlt, dass wir´s mit Sehnsucht seh´n?

Ob der Sand erinnert leise
sich an seine lange Reise?

Ob der Berg weiß, dass er mal
hinterließ ein weites Tal?

Ob der Baum sich mächtig freut,
wenn ein Nest in ihm verweilt?

Ob die Amsel selbst verliebt
sich berauscht an ihrem Lied?

Ob die Schnecke denkt: „Wie langsam!“
Oder: „Langsamkeit ist handsam“?

Ob der Regen, wenn er fällt,
sieht, dass Leben er erhält?

Ob die Frühjahrsblüher jubeln,
wenn sie in das Licht eintrudeln?

Ob die Wolke, wie ein Drachen,
hört, wenn über sie wir lachen?

Ob der Mensch weiß, mit Verlaub,
dass er ist nur Sternenstaub?

Herrlich unvernünftig

dass ich immer vernünftig sein soll
für dich
mein Kind
geht mir auf den Keks

drum gib mir doch bitte
einen von deinen ab
auch, wenn das vor dem Mittagessen
höchst unvernünftig ist

ich würde so gerne heute mal
mit dir tauschen:

Obst gegen Süßigkeiten
Hausschuhe gegen Barfußlaufen
Zähneputzen gegen Zahnpastaverkosten
Aufräumen gegen Sachen liegen lassen
Floskeln gegen gleich los Reden

zudem würd´ ich gerne so wie du
Bärlauch pflücken ohne Frühling
ins Freibad gehen ohne Sommer
Drachen steigen lassen ohne Wind
Schlitten fahren ohne Schnee

nur heute
will ich auch mal
so herrlich
unvernünftig sein

Zum ersten Mal

Zum ersten Mal
Geburtstag haben

Zum ersten Mal
an einer Rose riechen
eine Kerze auspusten
mit dem Löffel selber essen

Zum ersten Mal
laufen
hinfallen
Zug fahren
Eis essen
Tauben verjagen
ausgeschimpft werden

Zum ersten Mal
Zähne putzen
beim Kochen helfen
Sand in die Augen bekommen
der Puppe ein Fläschchen geben
von einem anderen Kind umarmt werden

Zum ersten Mal
„Mama“ sagen und „Papa“
Zum ersten Mal
ohne uns sein

Kannst du mir bitte heute eine
nur eine
deiner unzähligen
zum-ersten-Mal-Erfahrungen
schenken
dass ich das auch mal wieder erlebe

eine Sache zum ersten Mal?

In guter Hoffnung

in guter Hoffnung
auf ein neues Leben

das unseren Händen
neue Aufgaben
unseren Augen
neue Sichtweisen
unseren Ohren
neue Geschichten
schenken wird

in guter Hoffnung
auf ein neues Leben

das unsere Nächte verkürzen
unsere Pläne auf den Kopf
und unsere Nerven auf den Prüfstand
stellen wird

in guter Hoffnung
auf ein neues Leben

das bereits jetzt
unsere Freude vertieft
unsere Herzen verjüngt
unseren Träumen entspringt

in guter Hoffnung
auf dich
unser Kind

(Das Gedicht “In guter Hoffnung” ist erschienen unter: “Warkentin, Heide: Zeit der Erwartung
Die schönsten Gebete und Segensworte für Schwangerschaft und Geburt” im Claudius Verlag)

Wenn erst

wenn erst die Arbeit bewältigt ist
wenn erst die Raten abbezahlt sind
wenn erst der neue Chef bestimmt
wenn erst der blöde Kollege geht
wenn erst die Gehaltserhöhung winkt
wenn erst der Besuch abgereist ist
wenn erst das Wetter besser wird
wenn erst die Operation gelungen ist
wenn erst die Kinder groß sind
wenn erst Urlaub ist
wenn erst Morgen ist
wenn erst Abend ist
wenn erst –
dann!!

dann hat sich das „Dann“
aus dem Staub gemacht

es hat sich umgeschaut
wo es ein „Jetzt“ gibt

Freifrau

je länger ich hier
alleine bin
desto weniger
einsam fühle ich mich

ich bin all-eins

mit allem was mich umgibt
auf Friedensfuß

ich komme wunderbar aus
mit mir
ich verstehe mich bestens

ich bin Freifrau
für neue Gedanken und Taten

 

Corona der Schöpfung

Der Mensch gab sich selbst
den Ehrentitel:
Krone der Schöpfung.

Die Erde erlebt das anders.
Wir bewohnen sie nicht länger
als einen Wimpernschlag
ihrer Geschichte
und schon haben wir sie
gründlich ausgebeutet.
In die Enge getrieben
Tiere, Pflanzen und Mitmenschen.
Verschmutzt und vergiftet die Elemente.

Die Erde will uns Heimat sein.
Sie birgt genug für unsere Grundbedürfnisse
aber nicht für die Gier von so vielen,
nicht für die Maßlosigkeit der Wohlhabenden.
Ihre Schätze sind kostbar und begrenzt.

Corona der Schöpfung:
Das ist ein Weckruf an uns alle!

Corona trifft uns alle:
Einige Gewinner, viele Verlierer,
manche erwacht, andere versteinert,
verbohrt, vereinsamt, verstorben.
Fast alle versehrt.
Der Ruf wird laut,
alles solle wieder normal sein.
Alles? Bloß nicht!

Die Erde ist krank.
Unsere Systeme sind krank.
Wir aber wollen doch alle gesund sein.

An Corona spalten sich die Geister.
Notwendend wäre aber
ein gemeinsamer, guter Geist.

Wenn die Maskerade vorbei ist:
Was lernen wir aus dieser Lektion?

Geben wir unsere Kronen ab!
Ent-thronen wir uns!
Mut zur Demut!
Nehmen wir sie endlich an,
die Verantwortung für den Garten Eden!

Wir haben nur dieses eine Leben
auf dieser einen Erde.
Wir sind nicht allein und
nach uns will auch noch Leben werden.

*Alle Gedichte sind “Kostproben” und unterstehen meiner Lizenz und dürfen nur mit meiner ausdrücklichen Genehmigung veröffentlicht und weiterverbreitet werden.

*alle Hörproben:
Sprecherin der Gedichte: Verena Rendtorff, geb. 1964, München. Schauspielerin, Tänzerin, Sängerin, Sprecherin, Choreographin.
www. engelszungen.biz